Justiz und Inneres
Ratssitzung

„Es geht um das Schicksal der Flüchtlinge, es geht aber auch um die europäischen Werte und es geht um Solidarität“, erklärt Jean Asselborn vor dem Rat Justiz- und inneres in einem Interview im Luxemburger Wort

Die luxemburgische Tageszeitung „Luxemburger Wort“ veröffentlichte am 14. September ein Interview, das die Journalistin Dani Schumacher mit dem Minister für auswärtige Angelegenheiten und Immigration, Jean Asselborn, führte. Für Jean Asselborn stellt das Treffen der EU-Innen- und Justizminister zur Flüchtlingsfrage eine der größten Herausforderungen für Luxemburg im Rahmen der Présidence dar. Es geht nicht nur um eine Lösung in der Flüchtlingsfrage, auch die europäische Solidarität und die europäischen Werte stehen auf dem Spiel, erklärt der Chefdiplomat im Interview mit dem „Luxemburger Wort". Mit der freundlichen Genehmigung vom „Luxemburger Wort“ geben wir das Interview hier in seiner Gesamtheit wieder.Luxemburger Wort

Die Flüchtlinge, die Solidarität und die Werte

„Für Außenminister Jean Asselborn stellt das heutige Treffen der EU-Innen-und Justizminister zur Flüchtlingsfrageeine der größten Herausforderungen für Luxemburg im Rahmen der Présidence dar. Es geht nicht nur um eine Lösung in der Flüchtlingsfrage, auch die europäische Solidarität und die europäischen Werte stehen auf dem Spiel, erklärt der Chefdiplomat im Interview mit dem „Luxemburger Wort".

Herr Außenminister, als Ratsvorsitzender leiten Sie heute das Treffen der EU-Innen- und Justizminister zur Flüchtlingskrise. Mit welchen Erwartungen gehen Sie in das Treffen?

Dieser Montag wird wohl der wichtigste Tag der luxemburgischen Présidence. Es geht um das Schicksal der Flüchtlinge, es geht aber auch um die europäischen Werte und es geht um Solidarität. Europa funktioniert nur, wenn wir solidarisch sind. Das war der Fall, als wir die Länder des früheren Ostblocks aufgenommen haben. Die Solidarität gegenüber den östlichen EU-Ländern spielt auch heute noch im Zusammenhang mit den Sanktionen gegen Russland und sie spielt in Bezug auf die militärische Präsenz. Wir dürfen die Solidarität keinesfalls auf Spiel setzen. Wir müssen uns auch vor Augen halten, dass die EU in erster Linie ein Friedensprojekt darstellt und dass die Mitgliedsländer der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Konvention verpflichtet sind. Deren Einhaltung ist die Grundvoraussetzung. Wir müssen den Flüchtlingen, die unter die Genfer Konvention fallen, Schutz gewähren, daran führt kein Weg vorbei. Wir stehen vor einer doppelten Herausforderung. Wir müssen die aktuellen Flüchtlingsströme in geordnete Bahnen lenken, und wir müssen eine langfristige Strategie entwickeln, damit wir bei der nächsten Flüchtlingswelle nicht wieder bei null anfangen müssen. Die Europäische Union hat die Pflicht, die Flüchtlinge in einem solidarischen und effizienten Kraftakt zu schützen.

Wie genau wollen Sie die beiden Aspekte angehen, welche Lösungsansätze schlagen Sie vor?

In einem ersten Schritt geht es um die nackten Zahlen. Bereits im Juli hatten wir uns auf die Verteilung von 40 000 Flüchtlingen verständigt, laut den Vorschlägen von EU-Kommissionspräsident Juncker müssen nun noch einmal 120 000 Flüchtlinge innerhalb der Union verteilt werden. Von den 120 000 sollen 50 000 aus Griechenland kommen, 16 000 aus Italien und 54 000 aus Ungarn. Wir stehen also vor der Herausforderung, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten insgesamt 160 000 Menschen, die sich heute schon in der Union befinden, nach fairen Kriterien umverteilen müssen. Bei dem heutigen Treffen will ich zunächst erreichen, dass wir unverzüglich mit der Unterbringung des Flüchtlingskontingents vom Juli beginnen können. Für etwa 34 000 Schutzsuchende haben wir eine Lösung gefunden, nun müssen sich aber auch Polen und Spanien bewegen, denen im Juli wegen der Wahlen Aufschub gewährt worden war. Ich bin zuversichtlich, dass wir eine Lösung für die verbleibenden 6 000 Flüchtlinge finden werden, spätestens im Dezember, vielleicht aber auch schon früher.

Im Juli konnten nicht einmal 40 000 Flüchtlinge verteilt werden. Wie wollen Sie nun die Verteilung von weiteren 120 000 Schutzsuchenden bewältigen?

Wir werden versuchen, heute eine grundsätzliche politische Einigung herbeizuführen, die dann beim nächsten Treffen der Innen- und Justizminister am 8. Oktober umgesetzt werden muss. Grundvoraussetzung ist die Schaffung von sogenannten Hotspots, in denen die Flüchtlinge zunächst registriert und medizinisch versorgt werden. Diese Aufnahmezentren müssen dort errichtet werden, wo die Schutzsuchenden in die Union kommen, das heißt in Italien und in Griechenland. In den Zentren wird aber auch in einem ersten Gespräch geprüft, ob die Flüchtlinge überhaupt eine Chance auf Asyl haben. Wenn sie nicht unter die Genfer Konvention fallen, muss es möglich sein, sie von den Hotspots aus wieder zurück in ihre Heimatländer zu bringen. In Italien gibt es übrigens schon große Fortschritte. In Griechenland bleibt aber noch viel zu tun. Wir müssen Griechenland helfen und die Griechen müssen sich helfen lassen. Das ganze Konzept funktioniert nämlich nur, wenn wir sowohl den Ankunftsländern als auch den Transitländern helfen. Wir müssen uns aber auch überlegen, ob wir nicht stärker auf den Weg der Umsiedlung (Resettlement, A.d.R.) gehen, so wie Großbritannien dies tut. Diese Politik hat den Vorteil, dass die Flüchtlinge sich nicht den Schleppern ausliefern müssen.

Die meisten Flüchtlinge wollen aber nach Deutschland oder nach Schweden...

Es ist zwar verständlich, dass viele Flüchtlinge nach Deutschland oder nach Schweden wollen, aber das geht einfach nicht, diese Länder können aus rein praktischen Gründen nicht alle aufnehmen. Die Flüchtlinge haben ein Recht auf Schutz, sie haben aber auch Verpflichtungen. Sie müssen sich in den Hotspots registrieren lassen und in die Länder gehen, in die sie europäisch gesehen verteilt werden.

Was wollen Sie tun, wenn Ungarn eine gemeinsame Lösung weiter ablehnt?

Ungarn hat sich ausgeklinkt, Ungarn ist eher Teil des Problems als Teil der Lösung. Viktor Orbän will sich nicht an der Umverteilung beteiligen. Dies ist umso unverständlicher, als das Land ja entlastet würde, weil es 54 000 Flüchtlinge abgeben könnte. Wenn Ungarn sich heute nicht bewegt, könnte ich mir vorstellen, dass die Kontingente der anderen Länder aufgestockt werden. Konkret würde dies bedeuten, dass wir Italien und Griechenland stärker entlasten könnten.

Deutschland musste am Sonntag angesichts des enormen Ansturms von Flüchtlingen doch auf Grenzkontrollen zurückgreifen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Ich habe Verständnis für die deutsche Position, das Land ist im Augenblick einfach überfordert. Ich hoffe allerdings, dass sich das Problem nun nicht nach Österreich verlagert. Die Maßnahme macht deutlich, welches Chaos entstehen wird, wenn auch andere Länder Grenzkontrollen durchführen.

Und wie könnte die Unterstützung für die Länder, die an vorderster Front stehen, wie etwa  Griechenland und Italien, aussehen?

Zum einen ist die Frontex gefordert, um die Sicherung der EU-Außengrenzen zu verbessern. Gefordert ist aber auch das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen. Das EASO muss sich in den Hotspots um die Registrierung und die Betreuung der Flüchtlinge kümmern. Hier stehen alle EU-Staaten in der Pflicht, auch Luxemburg muss Helfer dorthin entsenden. Denkbar wäre auch ein Einsatz der Zivildienste. Darüber hinaus müssen wir den Kampf gegen die Schlepper verstärken und die Zusammenarbeit zwischen Europol und Eurojust (Die Europäische Einheit für justizielle Zusammenarbeit, A.d.R.) muss verbessert werden.

Wieso kommen die Flüchtlinge eigentlich gerade jetzt und wieso kommen so viele?

Der enorme Ansturm über die Balkan-Route hat verschiedene Ursachen. Die Situation in den Flüchtlingslagern in Jordanien und in der Türkei ist miserabel. Dem UN -Flüchtlingswerk UNHCR fehlen schlicht die Mittel, um alle Menschen zu versorgen. Das Geld reicht zum Teil nicht einmal mehr für das Essen, und es gibt keine Schulen für die Kinder. Wir müssen also Jordanien und der Türkei unter die Arme greifen, und wir müssen mehr Mittel für das UNHCR zur Verfügung stellen. Es wird eine Geberkonferenz in Norwegen geben. Dann nutzen die Menschen die gute Jahreszeit, um zu flüchten, im Winter ist die Schiffspassage noch gefährlicher. Der Flüchtlingsstrom hat auch deshalb so rasant zugenommen, weil Ungarn droht, seine Grenzen dichtzumachen. Jetzt wollen alle nur noch raus, bevor der Grenzzaun endgültig dicht ist.

Wie soll das Ganze eigentlich finanziert werden?

Gute Frage. Wir brauchen ein Riesenbudget, mit einer Milliarde Euro ist es nicht getan. Wir brauchen enorme finanzielle Mittel, um in der Union, aber auch außerhalb von Europa der Migrationswelle etwas entgegenzusetzen. Das Flüchtlingsproblem lässt sich nämlich nicht von heute auf morgen lösen. Wir werden mindestens ein Jahrzehnt lang mit dem Problem konfrontiert sein. Nordafrika und die Sahel-Zone werden sich in den nächsten Jahren nicht stabilisieren. Und im Mittleren Osten können wir auch nicht mit einer schnellen Befriedung rechnen. Es gibt zwar Anzeichen, dass sich in Syrien etwas bewegt, doch die Informationen sind sehr widersprüchlich.

Die Realität hat das Dublin-Abkommen ausgehebelt. Muss das Abkommen ganz neu verhandelt werden oder reichen Anpassungen?

Dublin ist nicht für Ausnahmesituationen wie diese gedacht. Es ist im Moment aber nicht sinnvoll, wenn wir Flüchtlinge, die in Luxemburg oder in Deutschland untergekommen sind, wieder nach Griechenland zurückschicken würden. Dublin ist nicht tot, wir dürfen Dublin nicht über Bord werfen, solange wir keinen neuen Mechanismus haben.

Wir dürfen aber auch das Schengen-Abkommen nicht aufs Spiel setzen. Zeitlich begrenzte Ausnahmen müssen unter bestimmten Bedingungen möglich sein, aber wir dürfen nicht am Prinzip rütteln. Schengen stellt die größte Errungenschaft der Union dar.”

INTERVIEW: DANI SCHUMACHER

  • Letzte Änderung dieser Seite am 14-09-2015