Erstmals seit zwei Jahren wurde ein neues Kapitel der Verhandlungen für den EU-Beitritt der Türkei eröffnet. Das verkündete Jean Asselborn, der luxemburgische Minister für auswärtige und europäische Angelegenheiten, am 14. Dezember 2015 nach einer Regierungskonferenz der Europäischen Union (EU) mit der Türkei, die am Rande der Tagung des Rates „Allgemeine Angelegenheiten“ vom 15. Dezember in Brüssel stattfand. Es handelt sich um das Kapitel 17 zur „Wirtschafts- und Währungspolitik“, womit die Anzahl der offenen Kapitel auf 15 von insgesamt 35 steigt.
Die Türkei wurde von ihrem Vizepremierminister Mehmet Şimşek vertreten, der vom Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu und vom Minister für europäische Angelegenheiten und Chefverhandler Volkan Bozkır begleitet wurde.
Die Beitrittsverhandlungen, die am 3. Oktober 2005 eröffnet worden waren, „machen somit weiterhin Fortschritte“, erklärte Jean Asselborn, der den Vorsitz der Konferenz führte. Er begrüßte die Tatsache, dass durch diese Eröffnung „im Rahmen der Wiederbelebung des Beitrittsverfahrens“, die beim EU-Türkei-Gipfel am 29. November 2015 beschlossen wurde, „diesem Prozess neuer Schwung verliehen wurde“. Das Kapitel 17 befasse sich mit den spezifischen Regeln, die die Unabhängigkeit der Zentralbanken garantieren, mit dem Verbot der direkten Finanzierung des öffentlichen Sektors durch die Zentralbanken und mit dem Verbot des privilegierten Zugriffs durch den öffentlichen Sektor auf Finanzinstitutionen, erläuterte der Minister.
„Es geht natürlich nicht darum, die Tore der Eurozone für die Türkei zu öffnen“, erklärte der Minister und präzisierte, das Kapitel verpflichte die Kandidatenländer lediglich dazu, die vom Vertrag festgelegten Kriterien umzusetzen, damit der Euro eingeführt werden kann, wenn nach dem EU-Beitritt dieser Moment gekommen ist.
„Die Union braucht die Türkei als strategische Partnerin bei zahlreichen internationalen Themen“, betonte der Minister und nannte die Migration, den Kampf gegen den Terrorismus, die Energiesicherheit, die Wirtschaft, den Handel und das Klima.
Der Minister begrüßte die Wiederaufnahme der Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union und der Türkei Ende November, denn diese Praxis sei „leider vernachlässigt“ worden. „Die Türkei ist ein so wichtiger Partner für die Stabilität und Sicherheit des europäischen Kontinents, dass man regelmäßig auf höchster Ebene mit ihr zusammenkommen muss“, bekräftigte der Minister. Jean Asselborn lobte zudem die Intensivierung des politischen Dialogs auf allen Ebenen.
Luxemburg, das „den Weg der Türkei in Richtung ihres Beitritts zur Europäischen Union von Anfang an begleite“, begrüße diese Entwicklung natürlich, erklärte Jean Asselborn und erinnerte daran, dass der Europäische Rat die Beitrittsfähigkeit der Türkei zur EU 1997 in Luxemburg bestätigt und dass die Europäische Kommission die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen 2005 unter dem luxemburgischen Ratsvorsitz vorbereitet hatte.
Unter dem aktuellen luxemburgischen Ratsvorsitz habe eine„Rekordzahl“ von acht Ministertreffen und hochrangigen Treffen stattgefunden, was „unseren aufrichtigen Willen, die Türkei mit den Entscheidungsprozessen der EU vertraut zu machen“, unter Beweis stelle, hob Jean Asselborn hervor, der sich am 18. September 2015 in die Türkei begeben hatte. Die Türkei war zudem zur hochrangigen Konferenz zum Thema der Flüchtlingsroute über den Westbalkan und das östliche Mittelmeer geladen, die am 8. Oktober in Luxemburg stattfand.
Johannes Hahn wiederum, EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen, nannte diesen Schritt ein „klares Signal“, das das Voranschreiten des Beitrittsverfahrens anzeige. Die Eröffnung des Kapitels 17, das „für die nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung der Türkei wichtig“ sei, werde vor allem der türkischen Wirtschaft und den türkischen Steuerzahlern nutzen, zeigte sich der Kommissar überzeugt. Johannes Hahn begrüßte die Anstrengungen der Türkei seit 2002, die öffentliche Verschuldung unter Kontrolle zu bringen, die von 70 % auf nunmehr 30 % des BIP gesenkt worden sei. Er betonte allerdings auch, die Türkei könne „noch mehr erreichen, wenn sie sich stärker am gemeinschaftlichen Besitzstand orientiert“ und wenn sie die Autonomie der türkischen Zentralbank weiter stärke. Diese Reformen bestätigten die Glaubwürdigkeit der Türkei als stabilen Standort, bekräftigte der Kommissar.
Die Vorbereitungen für einen Beginn der Verhandlungen zur Aufwertung der seit 1995 bestehenden Zollunion mit der Türkei würden vorangetrieben, erklärte Johannes Hahn weiter. Er rief die Türkei dazu auf, die „bedeutenden Mängel“ in Angriff zu nehmen, die der am 10. November 2015 von der Europäischen Kommission veröffentlichte jährliche Fortschrittsbericht benennt. „Wir hoffen, dass die neue türkische Regierung bemüht sein wird, Reformen durchzuführen, insbesondere in den Bereichen der Meinungs- und Pressefreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz.“
Aus Sicht der Türkei nannte der Minister für europäische Angelegenheiten und Chefverhandler Volkan Bozkır die Eröffnung des Kapitels 17 ein Anzeichen für die Wiederbelebung des Verfahrens für den türkischen EU-Beitritt, der ihm zufolge im gemeinsamen Interesse aller Beteiligten liegt. Er verlieh seinem Wunsch Ausdruck, dass das Beitrittsverfahren „aktiv und glaubwürdig“ geführt und andere, für die Türkei grundlegende Kapitel eröffnet würden. Der EU-Türkei-Gipfel am 29. November 2015 ist für ihn das Zeichen, dass eine neue Phase begonnen hat, denn folgende Entscheidungen wurden getroffen: Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus, Zusammenarbeit bei der Aufnahme der Flüchtlinge und Aufwertung der Zollunion.
Der Vizepremierminister Mehmet Şimşek vertrat die Auffassung, die Beziehung zwischen EU und Türkei sei unverzichtbar und könne der gesamten Region nutzen. Er stellte drei Dinge fest: dass die Türkei fest in Europa verankert sei, dass sie sich zu sehr großen Anstrengungen verpflichtet habe, um ein volles EU-Mitglied zu werden, und dass sie überzeugt davon sei, dass die Qualität von staatlichen Institutionen einem starken Wirtschaftswachstum zuträglich ist. In Bezug auf das Kapitel 17 sprach Mehmet Şimşek die zukünftige Unabhängigkeit der Zentralbank, den ausgeglichenen Haushalt und die Währungspolitik an. Der Prozess der Annäherung an die EU habe bereits jetzt zu einer nominalen und realen Angleichung geführt: Während das durchschnittliche BIP pro Einwohner im Jahr 1999 in der Türkei nur ein Drittel so hoch war wie in der EU, erreicht es heute 45 %.
Auf die Frage nach den in der Türkei inhaftierten Journalisten antwortete jeder Minister auf seine eigene Art und Weise. Mehmet Şimşek erklärte, aus Respekt für den Rechtsstaat keinen Kommentar zu einer laufenden Rechtssache abgeben zu wollen, und merkte außerdem an, die EU spreche in der Regel nicht mit Schurkenstaaten über deren Beitritt. Jean Asselborn zählte die Kopenhagener Kriterien für einen EU-Beitritt auf: rechtsstaatliche Ordnung und Wahrung der Menschenrechte, etwa der Versammlungs- und Meinungsfreiheit.
Im Hinblick auf die syrischen Flüchtlinge in der Türkei erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, diese hätten Zugang zum türkischen Gesundheitssystem, es würden – insbesondere mit EU-Unterstützung – neue Schulklassen eingerichtet und den Flüchtlingen würde eine Arbeitserlaubnis ausgestellt. Die Neuansiedlung von Flüchtlingen aus der Türkei in der EU hängt laut dem türkischen Minister von den EU-Mitgliedstaaten ab. Er forderte letztere dazu auf, nicht „zu selektiv“ vorzugehen und nicht nur die am besten ausgebildeten Flüchtlinge aufzunehmen. Er schätzte, die syrischen Flüchtlinge belasteten die Türkei mit 8 Milliarden. Die Unterstützung durch die EU in Höhe von 3 Milliarden werde diese Anstrengungen nicht verringern, sondern gehe direkt an die Flüchtlinge und solle ihnen dort helfen, wo sie leben.