Luxemburg und Europa, von der Montanunion zum Vertrag von Lissabon

Die geopolitische Lage des seit 1839 unabhängigen Staates Luxemburg war in seinen Anfängen nicht einfach. Er war von Frankreich und Deutschland umgeben, die sich immer deutlicher zu miteinander verfeindeten Nationalstaaten entwickelten, sowie von Belgien, das Luxemburg als verlorene Provinz betrachtete. Diese Situation zwang den neuen Kleinstaat dazu, sich um ein komplexes, empfindliches und nicht immer einfach zu haltendes Gleichgewicht zwischen seinen eigenen Interessen und den Interessen seiner Nachbarn zu bemühen. Luxemburg war in vielerlei Hinsicht von diesen Nachbarn abhängig, was das Land oft in Bedrängnis brachte und es zu Entscheidungen zwang, wegen derer man ihm in den benachbarten Hauptstädten Vorwürfe machte.

Der Beitritt Luxemburgs zu den internationalen Systemen verschiedener geschichtlicher Epochen hat es Luxemburg bis zum Beginn des Projekts der europäischen Integration nicht ermöglicht, sich von den Zwangslagen zu befreien, die sich aus seiner geopolitischen Lage und der Tatsache, dass es ein Kleinstaat war, ergaben. Der Zweite Weltkrieg verleitete Luxemburg dazu, seine Neutralität – die den Staat nicht schützte – aufzugeben und sich zuerst den Alliierte und dann der Atlantischen Allianz anzuschließen. Die politische Ordnung, die nach dem Weltkrieg auf dem westeuropäischen Festland etabliert wurde, basierte auf der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland sowie auf neuen Kooperationsmechanismen, die auf der Gleichstellung souveräner Staaten beruhten. Diese Veränderungen ermöglichten es Luxemburg schlussendlich, genuin freundschaftliche Beziehungen zu seinen großen Nachbarn aufzubauen, die geprägt waren von einer gegenseitigen Anerkennung der jeweiligen Interessen, womit die Zeiten der Bedrängnis überwunden werden konnten.

Luxemburg war eines der Gründungsmitglieder der Benelux-Staaten (1944), der UNO (1945), der NATO (1948) und des Europarates (1948) und wurde schließlich auch eines der sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS oder Montanunion), aus der die heutige Europäische Union hervorgegangen ist.

In diesem Zusammenhang ist die Hauptstadt des Großherzogtums seit Aufnahme der Tätigkeit der EGKS am 10. August 1952 zum ersten Arbeitsplatz der Gemeinschaftsorgane geworden und somit zur ersten Hauptstadt Europas. Neben Brüssel und Straßburg ist die Stadt Luxemburg noch heute eine der EU-Hauptstädte: Hier arbeiten Dienststellen der Kommission und des Europäischen Parlaments und hier haben unter anderem der Gerichtshof der Europäischen Union, der Rechnungshof und die Europäische Investitionsbank ihren Sitz.

Luxemburg als treibende Kraft seit Beginn der Geschichte der Europäischen Union

Seitdem hat Luxemburg innerhalb der Europäischen Union stets als Vermittler und treibende Kraft gewirkt, sei es als Staat oder über verschiedene seiner führenden politischen Persönlichkeiten.

Joseph Bech, Paul-Henri Spaak und Johan Willem Beyen auf der Konferenz von Messina, Juni 1955
Der Außenminister Joseph Bech war beispielsweise zunächst an den Verhandlungen des EGKS-Vertrags und später an den Verhandlungen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beteiligt. Er führte den Vorsitz bei der Konferenz von Messina, die nach dem Scheitern der Pläne zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) vom 1. bis 3. Juni 1955 stattfand. Während dieser Konferenz beauftragen die sechs Mitgliedstaaten der EGKS eine Expertengruppe unter dem Vorsitz des belgischen Ministers Paul-Henri Spaak, einen Bericht darüber zu erstellen, wie die europäische Vereinigung im wirtschaftlichen Bereich durch die Schaffung gemeinsamer Institutionen neu angekurbelt werden könnte. Ziel war es, den Prozess der europäischen Integration voranzutreiben. Aus dem Spaak-Bericht, der eine Zollunion mit gemeinsamen Außenzöllen sowie eine gemeinsame Atomaufsicht empfahl, gingen die Römischen Verträge hervor.

1970 entstand unter der Führung des Premierministers Pierre Werner ein Bericht, der seinen

Pierre Werner, luxemburgischer Ministerpräsident und Finanzminister, spricht über die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) in Straβburg, 1969
© Europäische Union
Namen trug und eine Wirtschafts- und Währungsunion im Sinne der heutigen WWU empfahl. Dieses Ziel wurde unter besonderen Umständen angestrebt: Die EWG litt darunter, dass es innerhalb des Binnenmarkts Wechselkurse gab, die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen beeinträchtigten. Deshalb musste eine Lösung gefunden werden, um die Wechselkurse abzuschaffen. Im Werner-Bericht war insbesondere ein Etappenplan vorgesehen, mit dessen Hilfe eine vollständige gegenseitige und irreversible Konvertierbarkeit der Währungen mit einem unveränderlichen Paritätenverhältnis umgesetzt werden sollte. Der Bericht plädierte für die Einführung einer einheitlichen Gemeinschaftswährung. Auf institutioneller Ebene schlägt der Bericht vor, ein wirtschaftspolitisches Entscheidungszentrum und ein gemeinsames Zentralbankensystem aufzubauen.

Der Premierminister und Außenminister Gaston Thorn war zwischen 1981 und 1984 Präsident der Europäischen Kommission.

Gaston Thorn und Jacques Santer
Der Premierminister Jacques Santer war an den Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht beteiligt und hat im Zusammenhang mit der Kompetenzerweiterung der EU als Kompromiss das Drei-Säulen-System vorgeschlagen (die Gemeinschaftspolitik, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres). Jede Säule basiert auf einer spezifischen Art der Beschlussfassung. Anschließend war Santer zwischen 1995 und 1999 Präsident der Europäischen Kommission. Unter seiner Präsidentschaft hat die EU in Sachen Euro Fortschritte gemacht, die beschäftigungspolitischen Gipfeltreffen eingeführt und die EU-Erweiterung weiter vorangetrieben.

Jean-Claude Juncker, der derzeitige Präsident der Europäischen Kommission, war als Finanzminister an den Verhandlungen des Vertrags von Maastricht und als Premierminister an den Verhandlungen der Verträge von Amsterdam, Nizza und Lissabon beteiligt. Von 2005 bis 2013 war er Präsident der Euro-Gruppe.

Auch in Luxemburg galt es, die Bürger und alle betroffenen Anspruchsgruppen zu überzeugen

Allerdings war das, was 2015 so offensichtlich erscheint, damals keineswegs selbstverständlich.

Als der französische Außenminister Robert Schuman, ein in Luxemburg geborener,

Robert Schuman eröffnet im Uhrensaal des Außenministeriums am Quai d'Orsay in Paris die Regierungsverhandlungen zur Umsetzung des Schuman-Plans, Juni 1950
© Europäisches Parlament
deutschsprachiger Lothringer, am 9. Mai 1950 seine berühmte "Erklärung" abgab, die heutzutage als Gründungsakt der europäischen Integration gilt, schlug er insbesondere vor, die gesamte französische und deutsche Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Verwaltung zu stellen. Die beiden Industriebereiche, die auch die Grundlage für die Rüstungsbetriebe bildeten, sollten ab sofort durch eine supranationale Organisation kontrolliert werden, die über das Allgemeininteresse wacht, allen europäischen Länder offen steht, die das Projekt unterstützen möchten, und die die Gleichstellung der Mitgliedstaaten wahrt.

1950 zählte Luxemburg zu den größten Stahlerzeugern Europas. Seine Stahlbranche machte 88 % des gesamten Exportvolumens sowie 75 % der Industrieproduktion des Landes aus und beschäftigte 25 % der Erwerbsbevölkerung. Die deutsch-französische Versöhnung, die Robert Schuman anstrebte, war ein lebenswichtiger Bestandteil der Luxemburger Außenpolitik. Gemeinsam mit seinen Partnern aus den Benelux-Staaten, Italien und Deutschland nahm Luxemburg Frankreichs Einladung zur Teilnahme an der Regierungskonferenz an, die am 20. Juni 1951 begann. Ziel war es, den Vertrag aufzusetzen, der die Ziele der Schuman-Erklärung in die Tat umsetzen sollte.

Die neue Herangehensweise der EGKS löste in der nationalen Stahlindustrie eine gewisse Besorgnis aus, aber dem luxemburgischen Außenminister Joseph Bech gelang es, die wichtigsten Betroffenen und das Land insgesamt von der strategischen und langfristigen Bedeutung der Montanunion zu überzeugen. So kam es, dass Luxemburg zu einem der sechs Gründerstaaten der EGKS wurde und über einen mit allen Rechten ausgestatteten Vertreter in der Hohen Behörde verfügte. Joseph Bech erreichte zudem, dass der Ministerrat die Möglichkeit hatte, die Entscheidungen der Hohen Behörde zu kontrollieren sowie aufzuheben und dass Entscheidungen durch Anrufung eines Gerichtshofs revidieren werden konnten, der ein Vorläufer des heutigen Europäischen Gerichtshofs war

Luxembourg and the European Union : interactive timeline on the CVCE website
CVCE
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Die Schaffung eines Gemeinsamen Markts, die ab 1956 angestrebt wurde, stellt Luxemburg vor verschiedene wirtschaftliche Probleme sowie politische Herausforderungen, dies besonders im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Öffentlichkeit und Politiker waren der Meinung, dass das Land bereits während den EGKS-Verhandlungen alles gegeben hatte und dass das, was dort erreicht worden war und das alle Aspekte im Zusammenhang mit den industriellen Interessen Luxemburgs regelte und regulierte, zufriedenstellend war. Es gab auch misstrauische Stimmen, die Ängste hegten für die Zukunft der Landwirtschaft und des Weinbaus, die der ausländischen Konkurrenz ausgesetzt würden. Auch das Thema der Freizügigkeit wurde in einem Land, das zur damaligen Zeit einen Ausländeranteil von 11 % aufwies (heutzutage sind es mehr als 48 %, und es bekommt dem Land sehr gut), nicht vorbehaltlos gesehen. Nach schwierigen Verhandlungen wurden dem Großherzogtum aufgrund seiner besonderen landwirtschaftlichen und demografischen Situation Schutzklauseln eingeräumt. Luxemburg unterzeichnete daher 1957 wie die anderen EGKS-Mitgliedstaaten die Römischen Verträge.

Die EU-Erweiterung um Spanien und Portugal im Jahr 1986 wurde ebenfalls kontrovers diskutiert. Luxemburg und die anderen Mitgliedstaaten zeigten sich hinsichtlich der unmittelbaren Anwendung der Klausel zur Arbeitnehmerfreizügigkeit besorgt. So befürchtete Luxemburg, dass unzählige arbeitssuchende Portugiesen den Staat überschwemmen würden. Deshalb einigte man sich auf abweichende Bestimmungen bezüglich der Zollunion und der Freizügigkeit, die die luxemburgische Regierung als Erfolg wertete. 

Auch der Vertrag von Maastricht wurde zwischen 1993 und 1994 kontrovers diskutiert. Eine der wichtigsten Neuerungen war der Begriff der europäischen Staatsbürgerschaft. Zum Niederlassungs-, Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht, das weiter ausgearbeitet wurde, kam ein weiteres Recht hinzu: das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunal- und Europawahlen in dem Land, in dem der EU-Bürger seinen Wohnsitz hat. Dieses neue Recht brachte die

Gruppenfoto des Europäischen Rats von Juni 1991 im Konferenzzentrum Kirchberg, Luxemburg
© Europäische Union
konservativeren und souveränistischen Kreise der luxemburgischen Gesellschaft in Aufruhr. Als Zeichen ihrer Kompromissbereitschaft beschloss die damalige luxemburgische Regierung deshalb, Belgien zu unterstützen, das abweichende Regelungen forderte. Diese sollten für die Aufenthaltsdauer gelten, die nicht-nationale europäische Bürger nachweisen sollten, um das aktive und passive Wahlrecht wahrnehmen sowie Bürgermeister werden zu können. Die Zustimmung zu diesen abweichenden Regelungen wurde als Voraussetzung dafür gesehen, dass die Abgeordnetenkammer eine durch den Vertrag von Maastricht notwendig gewordene Verfassungsänderung und eine Änderung des Wahlgesetzes vornehmen konnte.

Heutzutage hat sich die Situation geändert. Jeder EU-Bürger kann in Luxemburg an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen und bei diesen Wahlen kandidieren, wenn er zum Zeitpunkt der gesetzlich vorgeschriebenen Beantragung des Eintrags in das Wählerverzeichnis dort seinen Wohnsitz hatte. Was die Kommunalwahlen betrifft, muss der betreffende Bürger seinen Wohnsitz im Großherzogtum haben und dort zum Zeitpunkt der gesetzlich vorgeschriebenen Beantragung des Eintrags in das Wählerverzeichnis seit mindestens fünf Jahren gewohnt haben. Die Ausnahmeregelungen, die auf die kontroversen Diskussionen über den Vertrag von Maastricht zurückgehen, wurde in diesem Fall abgeschwächt, bestehen jedoch weiterhin teilweise.

Das Referendum im Jahr 2005 zum geplanten Verfassungsvertrag: ein Moment des Zweifels

Luxemburg ist wie Spanien, Frankreich und die Niederlande einer der vier Mitgliedstaaten, die 2005 ein Referendum durchführten, um per Volksabstimmung über den Entwurf für eine Europäische Verfassung abstimmen zu lassen.

Dieses Projekt wurde ins Leben gerufen, um die Defizite der Verträge von Amsterdam (1999) und Nizza (2001) auszugleichen – insbesondere im Hinblick auf die Erweiterungsrunde im Jahr 2004. Zwischen 2002 und 2003 wurde ein europäischer Konvent damit beauftragt, "die zentralen Fragen zu prüfen", die sich im Rahmen dieser Erweiterung auftaten, und "nach den entsprechenden Antworten zu suchen". An dem Konvent waren die Regierungen und nationale sowie europäische Abgeordnete der Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten beteiligt.

Der Konvent legte einen Vertragsentwurf für eine Verfassung für Europa (VVE) vor, deren endgültige Fassung am 29. Oktober 2004 von den Außenministern der Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde. Der Text sollte am 1. November 2006 in Kraft treten – unter der Voraussetzung, dass er von allen Mitgliedstaaten ratifiziert würde. In der Verfassung wurden die Werte, die die Grundlage der Europäischen Union bilden, zum ersten Mal strukturiert erfasst. In der Präambel des Verfassungsvertrags wurden das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas" sowie die Werte der Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit anerkannt.

Plakat des Luxemburger Christlichen Gewerkschaftsbundes (LCGB), mit dem er die Wähler auffordert, bei der Volksabstimmung über die Ratifizierung des Vertrags über eine Verfassung für Europa am 10. Juli 2005 in Luxemburg mit „Ja“ zu stimmen.
Den zweiten Teil des Vertrags bildete die Charta der Grundrechte der Union, in der heute gültigen Form. Die in ihr enthaltenen Rechte können gegen Maßnahmen der europäischen Institutionen und der Mitgliedstaaten, wenn diese Gemeinschaftsrecht umsetzen, gerichtlich geltend gemacht werden. Die Achtung der Werte der EU ist ein wesentliches Kriterium im Zusammenhang mit der Aufnahme eines neuen EU-Mitgliedstaats. Besteht bei einem Mitgliedsstaat das Risiko, dass er gegen diese Werte verstößt, können ihm die Rechte, über die er aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Union verfügt, entzogen werden.

Zu den Neuerungen, die im Zusammenhang mit dem Vertrag von Lissabon nicht berücksichtigt wurden, zählten eine Reduzierung der Mitglieder der Europäischen Kommission ab 2014, die zwei Drittel der Mitgliedstaaten entsprechen und im Turnus gleichermaßen auf alle Mitgliedsstaaten angewendet werden sollte. Ein anderer Punkt war die Möglichkeit, dass ein Mitgliedstaat die Europäische Union verlässt und die nationalen Parlamente eines Drittels der Mitgliedstaaten (in einigen Fällen eines Viertels) die Kommission dazu veranlassen können, einen von ihr unterbreiteten Vorschlag noch einmal zu überarbeiten, wenn sie der Ansicht sind, dass ein Vorschlag das Subsidiaritätsprinzip verletzt.

Am 10. Juli 2005, also nachdem Frankreich und die Niederlande im Mai respektiv im Juni schon gegen den Verfassungsvertrag gestimmt haben, stimmen die luxemburgischen Wähler mit knappen 56 % für den Verfassungsvertrag, dies nachdem Föderalisten, Pragmatiker und Souveränisten im Rahmen einer Diskussionskampagne im Land ihre jeweiligen Argumente ausgetauscht haben.

Plakat veröffentlicht von der Union Nationale des Etudiant-e-s du Luxembourg (UNEL) für das „Nein“ zur Ratifizierung des Vertrags über eine Verfassung für Europa

Eine von der Kammer in Auftrag gegebene Studie macht deutlich, wie groß die Kluft zwischen Politikern und Bürgern ist. Mit Ausnahme der souveränistischen Partei ADR stimmten alle politischen Parteien der Kammer, die mehr als 90 % der im Rahmen der Parlamentswahlen von 2004 abgegebenen Stimmen repräsentierten, für den Vertrag. Von den Bürgern hatten gerade einmal 55 % dafür gestimmt. Alle politischen Jugendverbände waren für den Vertrag, aber die Mehrheit der Jugendlichen stimmte beim Referendum mit "nein". Die wichtigsten Gewerkschaften mit Ausnahme der Eisenbahnergewerkschaft und eines Gewerkschaftsbundes, den es mittlerweile nicht mehr gibt, sprachen sich für den Vertrag aus; die Mehrheit der Arbeiter stimmte jedoch mit "nein". Aus der Studie geht hervor, dass die Argumente der anderen Organisationen der Zivilgesellschaft und der Berufskammern zum Vertrag eher den alltäglichen Anliegen der Wähler entsprachen.

Der Studie weist zudem auf mehrere Faktoren hin, die dazu beigetragen haben, dass mit "nein" gestimmt wurde: eine latente soziale Unzufriedenheit; politische Parteien, die davon überzeugt waren, dass es richtig war, mit "ja" zu stimmen, die aber nicht die Sorgen der Bürger zu verstehen schienen; die Tatsache, dass die politischen Parteien die Kontrolle über politische Agenda der Kampagne verloren hatten und sich im Laufe der Kampagne an die politische Agenda derjenigen anpassen mussten, die mit "nein" stimmen wollten; die Beeinflussung der Debatte in Luxemburg durch die Kampagne und die Ergebnisse der Referenden in Frankreich und den Niederlanden; der Dissens innerhalb der Parteien, insbesondere bei den Grünen und den Sozialisten, und die linken Wähler, die nicht ohne einen souveränistischen Anstrich mit "nein" stimmten. Die Autoren der Studie sind der Ansicht, dass es "der Premierminister und dessen Partei", also Jean-Claude Juncker und die CSV, waren, die "in solch einem Kontext, wo die Debatte sich um die 'nationale Identität' und das 'Soziale' drehte, wieder einmal perfekt die Rolle der 'Staatspartei' durchspielten, d.h. der Partei, die die eigentliche Verwahrerin des Wissens über europäische Politik und Verfechterin der Interessen des Großherzogtums in Europa ist, und in den letzten zwei Wochen der Kampagne (...) dafür gesorgt haben, dass zum Schluss des Luxemburger Ratsvorsitzes der EU das 'Ja' siegte."

Auch wenn 18 Mitgliedstaaten der EU den Verfassungsvertrag ratifizierten, hat die Tatsache, dass die französische und niederländische Bevölkerung bei den in ihren Ländern durchgeführten Referenden mit "nein" gestimmt haben, letzten Endes die Ratifizierung des Verfassungsvertrags verhindert. Dieser ist somit nie in Kraft getreten.

Der Vertrag von Lissabon

Der Vertrag von Lissabon
© Europäische Union
Nach einer zweijährigen Reflexionsphase wurde zwischen Juni und Oktober 2007 ein neuer europäischer Vertrag geschlossen – der Vertrag von Lissabon. Dieser greift den größten Teil der Besitzstände des Verfassungsvertrags auf und wurde am 29. Mai 2008 durch die luxemburgische Abgeordnetenkammer ratifiziert (47 Stimmen gegen 1 Stimme bei 3 Enthaltungen). Neun von 60 Abgeordneten waren bei der Abstimmung nicht anwesend. Nachdem der Vertrag von den anderen 26 Mitgliedstaaten ratifiziert worden war, trat er am 1. Dezember 2009 in Kraft.

Der Sozialist Ben Fayot, der Mitglied des Konvents gewesen war, war der Berichterstatter der Gesetzesvorlage. Er hob die drei wichtigsten Neuerungen des Vertrags von Lissabon, die auf mehr Demokratie hinauslaufen : die Festschreibung der Rechte der europäischen Bürger in der Charta der Grundrechte und die Einführung einer europäischen Bürgerinitiative, die Aufwertung des Europäischen Parlaments, die Mitentscheidung als gesetzgebendes Standardverfahren und die Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente, die direkt in den Entscheidungsprozess der EU eingebunden werden. Weitere Neuerungen des Vertrags von Lissabon bezogen sich auf die Institutionalisierung des Europäischen Rates, dem ein Präsident vorsitzen würde, und auf die Vereinfachung der Abstimmungen im Ministerrat. Ziel des neuen Vertrags war es, die Europäische Union effizienter, demokratischer und transparenter zu gestalten. Zudem sollte dieser Vertrag dafür sorgen, dass die Europäische Union politische Entscheidungen in den Bereichen treffen konnte, die den Bürgern besonders wichtig sind: Energie, Klimawandel, Europas Position in der Welt, eine gemeinsame Einwanderungspolitik und ein sozialeres Europa. Zudem sollen durch den Vertrag unter anderem die sich aus der Charta der Grundrechte ergebenden Rechte geschützt werden.

In seiner Rede vertrat der Abgeordnete folgende Meinung: "Das moderne Luxemburg wurde aus der europäischen Integration geboren. (...) Genauso, wie wir unsere Demokratie nicht in Frage stellen, wenn wir ein politisches Problem haben, dürfen wir auch Europa nicht grundsätzlich in Frage stellen, wenn wir uns über einen Angelegenheit nicht einig sind." Abschließend plädierte er für ein noch stärkeres Engagement Luxemburgs für Europa: "Europa ist das, was die Mitgliedstaaten daraus machen. Wir müssen in Europa präsent sein."

  • Letzte Änderung dieser Seite am 29-06-2015