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„Europa muss seine Größe, Menschlichkeit und Solidarität zeigen“, verkündet Jean Asselborn in einem Interview in der Tageszeitung „Le Monde“

Logo du journal Le MondeDie französische Tageszeitung „Le Monde“ veröffentlichte am 10. September ein Interview, das der Journalist Jean-Pierre Stroobants mit dem Minister für auswärtige Angelegenheiten und Immigration, Jean Asselborn, von seinem europäischen Büro in Brüssel aus führte. Darin nimmt der Minister Stellung zur Flüchtlingskrise und zu den Herausforderungen, vor die sie die EU und ihre Mitgliedstaaten stellt. Mit der freundlichen Genehmigung von „Le Monde“ geben wir das Interview hier in seiner Gesamtheit wieder.

Als Minister für auswärtige Angelegenheiten und Immigration von Luxemburg wird der Sozialdemokrat Jean Asselborn am 14. September 2015 den Rat „Justiz und Inneres“ leiten, der mit dem Entwurf von Antworten auf die ausgedehnte Flüchtlingskrise, mit der sich die Europäische Union konfrontiert sieht, beauftragt ist. Sein Land übernimmt bis Ende des Jahres die halbjährliche Ratspräsidentschaft der achtundzwanzig EU-Mitgliedstaaten.

Was erwarten Sie von diesem Treffen, nachdem die EU-Kommission vorgeschlagen hat, etwa 120.000 Flüchtlinge auf die Staaten zu verteilen?

Die luxemburgische Ratspräsidentschaft hat diesen Rat mit dem Willen einberufen zu zeigen, dass eine gemeinsame Antwort auf die enorme Herausforderung der Migration möglich ist. Wir werden nicht alles an einem Tag regeln können, aber es muss eine grundlegende Frage geklärt werden: Wie wird Europa mit all diesen Menschen umgehen?

Wir haben schreckliche Bilder gesehen, die des Lkws mit den erstickten Migranten in Österreich und die des kleinen Aylan an einem Strand in der Türkei. Wir sind aber auch Zeugen eines ungeheuren Elans an Großzügigkeit − in Deutschland, Österreich und anderswo. Es existiert eine tiefe Spaltung zwischen den Reaktionen der öffentlichen Meinung und dem Widerstand einiger politischer Verantwortlicher. Dieses Umschwenken kann seine Wichtigkeit haben.

Wir müssen uns klarmachen, dass die Krise vielleicht zehn Jahre andauern wird und dass die Lösungen daher viel Zeit in Anspruch nehmen werden. Wir sollten unsere Solidarität untereinander nicht in Frage stellen, ansonsten bieten wir den Befürwortern der europäischen Entzweiung Argumente.

Tatsächlich war Europa selten so geteilt: Die Länder im Zentrum und im Osten der Union wiederholen ihre Ablehnung jeglicher zwingender Maßnahmen für die Aufnahme von Flüchtlingen.

Ich verschließe die Augen davor nicht. Auch weiß ich sehr gut, dass sehr rechte Tendenzen einigen Koalitionen das Leben schwermachen. Europa aber muss seine Größe, Menschlichkeit und Solidarität zeigen und diese Doppelzüngigkeit ablegen, die ihm manchmal vorgeworfen wird. Einige wollen auf ihrem Boden nur gesunde, katholische Weiße akzeptieren? Diesen Punkt werden sie von nun an vor der öffentlichen Meinung verteidigen müssen, und das wird nicht einfach werden.

Ich möchte alle daran erinnern, dass die EU eine unfehlbare und bewundernswerte Solidarität bewiesen hat, als es nach dem Fall der [Berliner] Mauer darum ging, sich für Neuankömmlinge zu öffnen. Oder als es in den 1990er Jahren galt, Bevölkerungen aus Ex-Jugoslawien aufzunehmen. Auch haben wir mit Hilfe von Strukturfonds Geldtransfers ohne große Schwachstellen von den Reichsten zu den Ärmsten sichergestellt. Und heute sind wir solidarisch, um Russland Sanktionen aufzuerlegen und unseren Freunden im Osten zu helfen, z. B. indem wir eine abschreckende Militärpräsenz auf ihrem Territorium gewährleisten.

Sie haben gesagt, dass man sich für die von Ungarns Premierminister Viktor Orbán geführte Politik „schämen“ müsse: Bestätigen Sie das?

Nun, ich sehe mich nicht in der Position einer moralischen Referenz, aber wir sollten nicht mit dem Feuer spielen, indem wir menschliche Werte in Frage stellen, vor allem, wenn wir es mit Leuten zu tun haben, die schlimmste Gräueltaten erlitten haben.

Wie beurteilen Sie die Arbeit der Kommission?

Ich glaube, ihre Vorschläge sind durchdacht und können im Großen und Ganzen befolgt werden. Einige Punkte werden dennoch stark diskutiert werden, wie z. B. diese Idee, Staaten zur Kasse zu bitten, die sich auf einen angeblichen Mangel an Aufnahmetradition oder eine Sondersituation berufen, um Flüchtlinge abzulehnen. Erinnern wir uns daran, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in ihrem Artikel 18 die Staaten dazu verpflichtet, Personen aufzunehmen, die durch die Genfer Konventionen geschützt sind.

Außerdem müssen wir eine Rückführungspolitik entwickeln mit dem Wissen, dass die Hälfte der Ankömmlinge in Europa Syrer, Afghanen oder Eritreer sind, und es daher schwierig sein dürfte, sie in ihre Länder zurückzuschicken ...

Es gilt auch dafür zu sorgen, dass die „Hotspots“ [Kontroll- und Registrierungszentren in Griechenland, Italien und Ungarn] funktionieren und Asylanträge schnell und würdig aufnehmen. Schließlich müssen wir neue Wege der Zusammenarbeit mit den Ursprungs- und Transitländern finden.

Besonders im EU-Parlament sind einige erstaunt darüber, dass noch kein Sondergipfel zur Migration einberufen wurde ...

Die Erfahrung des letzten EU-Gipfel zu dieser Frage wird sie wohl nachdenklich gemacht haben. Ein zweites Innenminister-Treffen wird dem Gipfel Mitte Oktober vorausgehen und wichtige Entscheidungen treffen können. Mit einer qualifizierten Mehrheit und nicht einstimmig wie bei einem Gipfeltreffen ...

Die Entwicklungen der Krise haben die Hypothese westlicher Bombenangriffe in Syrien wieder aufkommen lassen. Wie stehen Sie dazu?

Ich habe am Dienstag mit Präsident Hollande darüber gesprochen, der die Notwendigkeit erwähnt, das Phänomen an der Wurzel zu bekämpfen. Man wird nicht alles durch Waffen lösen können, und es gilt, der Vorsicht den Vorzug zu geben, aber auch, den Islamischen Staat zurückzudrängen und das Arsenal zu zerstören, das ihm die Fortführung seiner Gräueltaten ermöglicht. 

Das Gespräch führte Jean-Pierre Stroobants (Brüssel, europäisches Büro)

  • Letzte Änderung dieser Seite am 10-09-2015